Ernst Günter Hansing porträtiert Zeitzeugen

Rede zur Eröffnung der Ausstellung "Ernst G. Hansing - Zeitzeugen" im Kunstraum Bad Honnef am 28. März 2004

Die Kunst Ernst Günter Hansings, Menschenbilder aus einer Dimension der Tiefe zu gestalten, hat Konrad Adenauer treffend vor seinen eigenen von Hansing gemalten Bildnissen charakterisiert. Adenauer bemerkte: "Hansings Porträts sind keine Porträts im üblichen Sinne, es sind Visionen."

Bildnisse des Menschen haben Hansing seit den Fünfziger Jahren mit niemals nachlassender Intensität gefesselt. Warum zeichnet und malt ein Künstler in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts noch Menschenbilder, wo man doch gerne den Ausspruch des Malers Otto Dix zitiert, Porträtmalerei werde von der Moderne für eine subalterne Beschäftigung gehalten? Begibt sich ein Künstler dennoch auf das Terrain der Porträtmalerei, hat er dann nicht die Konkurrenz des Fotografen zu fürchten?

Hansing verneint dies. Das Kennenlernen und Ergründen von Menschen, die sein Interesse weckten, ihn zu Bildthemen anregten und den Prozess des Zeichnens und Malens wach hielten, führten ihn zu der Erkenntnis: Die Momentaufnahme einer Fotografie, auch bester Qualität, kann einem Menschen kaum gerecht werden. Der Fotograf vermag in der Momentaufnahme eines Gesichtes nur eine Facette des Ausdrucks zu erhaschen. Möglich, dass es gelingt, durch eine Serie von Aufnahmen den Charakter eines Menschen in mannigfachen Nuancen zu visualisieren.

Ernst Günter Hansing: Herbert Wehner, 1976
Öl auf Leinwand, 140 x 130 cm
Bonn, Friedrich-Ebert-Stiftung

Der Maler dagegen hat den Vorteil, eine Vielzahl von Eindrücken in einem Bild zur Synthese bringen zu können. Aus diesem Grunde beschäftigt sich Hansing auch so lange und intensiv mit einem Porträt, um die verschiedenen Situationen, in denen er sein Gegenüber beobachten kann, nicht oberflächlich wahr zu nehmen, sondern von innen her zu verstehen. "Nicht das äußere Bekannte, sondern das zu erforschende Innere muss in einem Bildnis zum Ausdruck kommen, selbst Ahnungen der Zukunft sind möglich und offenbaren sich intuitiv während der Studien" (Hansing). Aus solchen Erkundungen entstanden Porträtreihen, von ersten Kugelschreiberskizzen bis zum Hauptwerk. Hierbei suchte der Maler bei Menschen, die ihm anhaltend einen künstlerischen Impuls gaben, Schichten ihrer Persönlichkeit freizulegen.

Ein Schlüsselerlebnis für Hansing war die Zusammenkunft mit Konrad Adenauer, der dem Dreiunddreißigjährigen gestattete, ihn bei der Arbeit am Schreibtisch zu beobachten und zu zeichnen. Ein anderer großer Rheinländer ebnete dann weiter den künstlerischen Weg des jungen Norddeutschen: der Kölner Erzbischof Josef Kardinal Frings. Über ihn öffneten sich Hansing die Pforten des Vatikans in Rom. Die Begegnungen mit den Päpsten Paul VI. und Johannes Paul II. führten zu einzigartigen Bildkompositionen.

Breiten Raum beansprucht in Hansings Oeuvre die so genannte Bonner Szene: Neben Konrad Adenauer porträtierte der Künstler Ludwig Erhard, Walter Scheel, Helmut Kohl, Willy Brandt, Richard von Weizsäcker und viele andere. Besonders erwähnt sei Herbert Wehner: Einmal kam er - eine Seltenheit - zu einer Fraktionssitzung zu spät und entschuldigte sich mit den Worten: "Ich war heute morgen bei dem Maler Hansing, der mich gemalt hat, und ich war dermaßen beeindruckt und erschüttert von dem, was der Mann aus mir gemacht hat."

Anne-Sophie Mutter, 1990
Acryl auf Leinwand, 180 x 135 cm
Besitz des Künstlers

Um solche Begegnungen ranken sich Geschichten. Eines der bewegendsten Erlebnisse für den Künstler war das Zusammentreffen mit François Mitterrand am Grabe Konrad Adenauers auf dem Rhöndorfer Waldfriedhof. Viele Male gewährte Mitterrand danach dem Maler Porträtsitzungen im Elysée. Nach den Bildnisreihen von Konrad Adenauer und Josef Kardinal Frings zählen die Mitterrand-Porträts zu den wichtigsten Werken Hansings in einer teilweise extrem kühnen Formensprache.

Was die Mittel der Gestaltung betrifft, so brachte Hansing in seine Bildnisse zumeist die Formelemente seiner energiegeladenen abstrakten Kompositionen ein, die Titel tragen wie "Kosmische Eruptionen" oder "Leuchtend blau fallend vor kosmischem Raum". Formelemente aus solchen Kosmosbildern werden im Porträtwerk eingesetzt als Chiffren etwa für Ausstrahlung, Konzentration von Energien, Bedrohung von außen oder Einbezogensein in ein Gefüge von Spannungen.

In den letzten Jahren entstanden eindrucksvolle Frauenbildnisse. In der Ausstellung finden Sie das Bildnis der Geigerin Anne-Sophie Mutter. Hansing beobachtete sie bei Konzerten und Proben und fertigte Skizzen von ihr an. Der Künstler war gefangen von der Kraft, vom Ausdruck, von der hohen Begabung und dem Können der Musikerin. Hinzu kam ihre Erscheinung. Für den Künstler war es ein Phänomen, das Gesicht einer Mitzwanzigerin zu erleben, das sich beim Spiel zu einem Gesicht einer um Jahre älteren Frau vergeistigte. In dem mit splitterartigen Pinselzügen gemalten Ganzfigurenbild hört man das Spiel förmlich mit den Augen. Alle Formen sind Klang oder - um den Ausspruch Anne-Sophie Mutters vor diesem Bild zu zitieren -: "Da ist der ganze Körper Musik geworden."

Mutter Teresa, 1995
Acryl auf Leinwand, 168,2 x 118,4 cm
Bad Honnef, Katholisch-Soziales Institut der Erzdiözese Köln

Das Porträtschaffen Ernst Günter Hansings kulminierte in jüngerer Zeit in den Bildnissen Mutter Teresas, der der Künstler und seine Gemahlin in Rom begegneten. Im Hauptwerk verbindet nur eine einzige Linie das Gesicht im Profil mit den gefalteten Händen. Jedes Mehr an Zeichnung hätte nach der Überzeugung Hansings der Bildidee geschadet, den Reichtum an Gläubigkeit und Zuversicht dieser einfachen Frau zum Ausdruck zu bringen.

Auf der Einladung zu dieser Ausstellungseröffnung ist der Künstler vor seinem Bildnis von Marc Chagall zu sehen, einer Vision eigener Art. Schauplatz einer letzten Begegnung war 1983, die "Colombe d'Or" in St. Paul de Vence, wo Chagall zuletzt lebte. Hansing, der mit seiner Frau Eva in St. Paul gerade seinen Urlaub beenden wollte, erfuhr kurz vor der Abreise, Chagall sei zum Mittagessen angesagt. Die Mal- und Zeichenutensilien waren im Reisegepäck verstaut. So mussten in Eile Briefumschläge her. Ohne dass Chagall es merkte, fertigte Hansing von dem Sechsundneunzigjährigen, der am Nebentisch Platz genommen hatte, Kopfstudien an. Sie sollten bei anderer Gelegenheit ergänzt werden. Ein Besuch bei Chagall war erwogen. Doch sein Tod 1985 vereitelte dies.

Hommage à Chagall, 1985
Acryl auf Leinwand, 180 x 135 cm
Besitz des Künstlers

Die Skizzen sind erste Erkundungen physiognomischer Charakteristika des Greisengesichts. Hansing fesselte an Chagalls Antlitz die Erscheinung eines nächtlichen Fabelwesens, dem etwas Schwebendes, Märchenhaftes eignet. Es gibt zahlreiche Zwischenstufen zum Hauptwerk. Dieses ist monumental auf schwarzem Grund gemalt mit tiefem Blau umrahmt, das die Atmosphäre der Nacht noch intensiviert. Mit sparsamen, vollendet geformten Farbzügen in Weiß und vereinzelt Rot taucht das Gesicht des Traumwesens aus dem Schwarz des Grundes hervor. Geblieben von den Anfängen der Gesichtserkundung sind die tierhaft fixierenden Augen, die Faunsnase und der zu einem Grinsen in die Breite gezogene Mund. Hätte er mehr als die drei Skizzen auf den Briefumschlägen gehabt, so gestand mir Hansing, habe er die daraus entstandenen Abstraktionen der "Hommage à Chagall" nicht so frei entwickeln können. Alles an gemalter und gezeichneter Struktur hält die Komposition in der Balance. Nicht die geringste Einzelheit könnte man wegnehmen oder hinzufügen, ohne die Ausgewogenheit zu stören. Die Malweise lässt trotz ihrer Beherrschtheit und Präzision nichts an Lebendigkeit vermissen. Wichtig sind die Negativformen und die schwarzen, von den weißen Farbzügen begrenzten Zwischenflächen. Ihnen vor allem verdankt das Bildnis seine Großzügigkeit. Sie tragen das Schwebend-Traumhafte mit, das Hansing an Chagall beobachtete und in dessen Malerei bewundert.

Chagall war als Maler ein Märchenerzähler. In Hansings Bildnissen ist das Wesen des Märchenerzählers, der in Traumwelten versetzt und selbst Teil dieser Traumwelten ist, auf wunderbare Weise veranschaulicht.

Wer sich mit Hansings Werken auseinandersetzt, darf mit zweierlei nicht geizen: mit Zeit und Geduld. Hansings Bilder wollen mit Sorgfalt in allen Einzelheiten durchmustert sein, denn in den Einzelheiten liegt der Schlüssel zu ihrem Verständnis.

Als Papst Paul VI. 1972 das Hansing-Werk "Papsttum" entgegennahm, äußerte er, man dürfe an einem solchen Bild nicht vorschnell vorübergehen, nur bei längerer Betrachtung erschließe sich seine Tiefe. Vom Betrachter sei ein "Akt des Nachdenkens" gefordert. Diese Ausstellung bietet erneut Gelegenheit, den "Akt des Nachdenkens" vor Ernst Günter Hansings Bildnissen von Zeitzeugen reichlich zu vollführen.

Wilfried Hansmann

Literaturhinweis
Wilfried Hansmann / Hans Nitsche, Ernst Günter Hansing.
Menschenbild und Abstraktion, Köln 1997